Liebe Unionswählerinnen und Unionswähler
Es gab mal eine Zeit, da wählte „man“ als Christ ganz selbstverständlich die Partei mit dem C im Namen. Pfarrer (-innen gab’s noch nicht) riefen mehr oder weniger unverhohlen von der Kanzel dazu auf. Und sicherlich hat die Union auch viel Gutes für Deutschland erreicht, gar keine Frage.
Für mich als Pfarrer ist es nicht so einfach, mich parteipolitisch zu positionieren, denn als Pfarrer muss und will ich für alle da sein. Ich rede mit Linken genauso wie mit afd-Anhängern, taufe, traue und beerdige sie alle und versuche, dabei meine eigenen Präferenzen beiseitzuschieben. Ob mir das immer gelingt, weiß ich nicht. Aber trotz alledem habe ich natürlich eine Meinung – und bin auch Mitglied einer Partei, aber darum soll es heute nicht gehen.
Ehrlich: Ich verstehe, dass Sie Ihr Kreuz schon immer bei der CDU oder CSU gemacht haben. Deutschland hat sich wirtschaftlich gut entwickelt, zumindest auf den ersten Blick. Die Union hat auch kräftig an dem Bild gearbeitet, dass sie die einzige Partei ist, die den Laden zusammenhalten kann, für Sicherheit sorgen und die Wirtschaft am Laufen halten kann, während „die Linken nicht mit Geld umgehen können“. Und gerade auf Ortsebene habe ich viele hoch integre Menschen in der CSU erlebt, die sich wirklich mit Herzblut für ihren ganzen Ort einsetzen. Etwa – dieser kurze lokale Exkurs sei mir erlaubt – unseren kurz vor Ende seiner Amtszeit verstorbenen Gochsheimer Bürgermeister Wolfgang Widmaier, mit dem ich oft nicht einer Meinung war, dem ich aber in den vielen Gesprächen, die wir als Pfarrer und Bürgermeister führten, trotzdem abspürte: Seine ganze Gemeinde lag ihm am Herzen. Auch ökologisch hat er vieles angeregt, wovon wir jetzt noch, sieben Jahre nach seinem Tod, zehren. Vor allen diesen Menschen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, habe ich höchsten Respekt, egal, in welcher Partei und auf welcher Ebene. Ich werde auch niemals in das Geschrei einstimmen „alle Politiker sind korrupt und belügen uns“. Ich weiß, dass das nicht stimmt, und widerspreche solchen Aussagen regelmäßig in den sozialen Medien und in persönlichen Gesprächen.
Ich würde mir tatsächlich eine Partei wünschen, in der Menschen auf der Basis ihres christlichen Glaubens (und andere, die ähnliche ethische Grundeinstellungen haben) menschenfreundliche Entscheidungen treffen. Eine Partei, in der die Menschen und ihre Lebensmöglichkeiten im Mittelpunkt stehen. Für die Mitmenschlichkeit, Anstand, Moral und sogar so krasse Werte wie Selbstaufopferung eine Rolle spielen, die aber auch damit umgehen kann, dass Menschen eben Fehler machen, und die deswegen eine gute Balance findet zwischen Anprangerung von Fehlern sowie Konsequenzen daraus und auf der anderen Seite einer zweiten Chance. Eine Partei, die die Bewahrung der Schöpfung in ihrer Gesamtheit im Blick hat und auch wirklich verstanden hat, wie dringend und grundlegend der Kampf gegen die Klimaerhitzung ist. Denn nur, wenn es der Natur gut geht, kann es uns auch gut gehen. Außerdem eine Partei, die auch mit den politischen Mitbewerbern fair und offen umgeht und sich erkennbar darum bemüht, das Beste nicht für sich selbst, sondern für das Land und die Menschen darin zu erreichen. Inklusive der Menschen, die auf der Flucht sind und bei uns Schutz suchen. So würde ich mir eine christliche und soziale Partei wünschen, die christliche Nächstenliebe praktiziert und in Politik umsetzt. So würde ich sie wählen und sogar in ihr mitarbeiten.
Was ich derzeit in der Union erlebe, ist leider das genaue Gegenteil davon. Das kann ich gerade auch als Christ, dem die Schwächsten in der Gesellschaft wichtig sind, nicht einfach schweigend hinnehmen. Ein paar Beispiele dazu:
Flüchtlingspolitik
Die Flüchtlingspolitik der EU ist einer christlichen Partei absolut unwürdig. Ich verstehe, dass es EU-weit nicht so einfach ist und viele Länder eine sehr restriktive Politik fahren, in der Hoffnung, dass Abschreckung funktioniert (tut sie nicht.) Dennoch kann es nicht sein, dass eine C-Partei es hinnimmt, dass Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken oder in menschenunwürdigen Lagern an den EU-Grenzen eingepfercht werden. Oder dass sie nichts unternehmen, wenn die Schiffe, die nun privat und sogar mit Unterstützung der Kirche für die Rettung der Menschen sorgen, mit fadenscheinigen Begründungen in italienischen Häfen festgehalten werden. So viel Angst vor den Krakeelern der afd?
In der Zehn-Punkte-Erklärung der CSU von 1946 stand schon die Forderung: „Brot für die Hungernden, Heime für die Obdachlosen, großzügige Hilfe für die Entwurzelten und die unschuldigen Opfer des Krieges und Terrors“. „Ja, ja!“ Möchte ich rufen. „Genau das! Wo kann ich in diese Partei eintreten?“ Aber offenbar waren nur die hungernden und obdachlosen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gemeint – und nicht die Entwurzelten von heute, die Hungernden auf der Welt, die wir teils durch unser Wirtschaften in existentielle Nöte gebracht haben – und die nun ihre Heimat verlassen, um irgendwo ein menschenwürdiges Leben zu finden.
Ich glaube nach wie vor, dass eine Mehrheit der Deutschen eine menschenfreundlichere Politik befürworten würde. Und selbst, wenn nicht, müsste eine christliche Partei hier meines Erachtens klar und mutig Stellung beziehen. Ich kann an dem Verhalten der Union in dieser Frage leider nichts Christliches finden. Es ist unwürdig, mutlos und unsozial, was da geschieht. Ich schäme mich für unser Land und trauere um jeden ertrunkenen Menschen.
Asylpolitik und Kirchenasyl
Ich bin als Pfarrer nur am Rande in die Asylarbeit unserer Kirche eingebunden, andere Kolleginnen und Kollegen sind in diesem Punkt viel engagierter, weil sie als Gemeindepfarrer*innen kirchliche Gebäude haben, in denen sie Kirchenasyl durchführen können. Ich habe Menschen kennengelernt, die unter Todesgefahr aus ihrem Land fliehen mussten, weil herauskam, dass sie heimlich Bibeln verteilten, und die trotzdem wieder in ihre Heimat abgeschoben werden sollten mit dem fadenscheinigen Argument, sie müssten ja nicht lauthals herumposaunen, dass sie Christen sind. Ich habe bestens integrierte Menschen begleitet, die einen festen Arbeitsplatz hatten und trotzdem plötzlich in ein Land „zurück“ sollten, dessen Sprache sie kaum noch sprachen und in dem ihnen die Todesstrafe drohte. Ich weiß von „Glaubensbefragungen“ zu irgendwelchen Details der Bibelkunde, bei denen selbst ich als Pfarrer ins Straucheln gekommen wäre. Als ob solches Detailwissen entscheidend dafür wäre, ob ich Jesus als meinen Retter ansehe. Und als ob der Staat über den Glauben eines Menschen entscheiden könnte. Ich weiß von vielen Verfahren gegen Pfarrerinnen und Pfarrer, die solchen und anderen durch die Abschiebung mit dem Tod bedrohten Menschen halfen. Nicht alle haben diese Verfahren in die Öffentlichkeit gebracht; oft, um die von ihnen betreuten Menschen zu schützen. Eine christliche Partei, die Christinnen und Christen in Länder abschiebt, in denen ihnen Verfolgung und Tod droht? Ich schäme mich zutiefst für diese Politik. Christlich ist sie nicht.
Selbstbereicherung, Spenden- Finanz- und Maskenskandale
Keine Frage: Viele Politiker*innen in der Union tun ihr Bestes für dieses Land. Doch dann gibt es die, die sich nebenher bereichern. Gibt es eine andere Partei, die in den letzten Jahrzehnten dermaßen viele Spenden- und andere Finanzskandale hatte? Besonders die Bereicherung an den Maskendeals in Zeiten der Not finde ich verwerflich. Aber auch davor gab es so viele Spendenskandale und ähnliches, dass man sich schon fast daran gewöhnt hat. Der Dinnerabend bei Jens Spahn mit Spenden über jeweils 9.999 € (also gerade unter der meldepflichtigen Grenze) wirkt für mich wie Hohn auf unsere Gesetze, die offenbar für manche in der Union nur dazu da sind, sie bis zum letzten auszureizen. Das ist für mich das Gegenteil von integrer Politik.
Alle parteiinternen Versuche, dagegen anzugehen, scheinen mir eher Augenwischerei zu sein. Man denke nur an diese „Ehrenerklärung“ zum Maskenskandal, die auch der mittlerweile aus CDU wie Bundestag ausgeschiedene Mark Hauptmann unterschrieben hatte (an dessen Stelle jetzt ausgerechnet Maaßen kandidiert). Wenn das die einzige halbherzige Maßnahme war, dann gute Nacht. Vorhin hatte ich was von Anstand und Moral geschrieben. Das scheint mir bei einigen (nicht bei allen!) in der Union nicht gegeben zu sein.
Nach wie vor behindert und beschränkt aber gerade die Union die Offenlegung von Nebeneinkünften und von Lobbyismus, auch wenn sie angesichts der neuesten Skandale kurz vor der Wahl hier zu deutlichen Zugeständnissen bereit sind. Der Eindruck verfestigt sich für mich, dass etliche in der Partei da in einem Maß verstrickt sind, das nicht gut für unser Land ist.
Fehlende Abgrenzung nach rechts außen
Ich weiß, dass die Kreisverbände frei sind in ihrer Aufstellung der Kandidierenden. Trotzdem fällt es mir schwer, der CDU ihre Abgrenzung zur afd abzunehmen, wenn sie die Kandidatur von Hans-Georg Maaßen einfach so hinnimmt, von dem nun ja auch etliche Institute sagen, er benutze antisemitische Chiffren. https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/maassen-antisemitismus… Von einer christlichen Partei erwarte ich hier klarere Positionierungen.
Populistischer Schlammschlacht-Wahlkampf
Es ist durchaus ok, dass im Wahlkampf mit harten Bandagen gekämpft wird. Auch ich selbst erwische mich manchmal bei sehr zugespitzten Aussagen. Schöner wäre es, wenn dabei alle bei der Wahrheit bleiben würden – oder zumindest keine wesentlichen Punkte verschweigen würden. Annalena Baerbock als Frau und Grüne muss derzeit einen Schwall von Hass über sich ergehen lassen. Das war vorherzusehen. Leider spielen auch CDU, CSU und gelegentlich sogar SPD und Linke dieses Spiel mit. Mit Halb- und Fehlinformationen wird versucht, die Grünen lächerlich zu machen oder zu diskreditieren.
Am 12.6. twitterte beispielsweise Paul Ziemiak in völliger Verdrehung des Referats der wirklich über alle Zweifel erhabenen Carolin Emcke, sie hätte antisemitische Äußerungen getan. Inzwischen hat er sich für diesen Tweet entschuldigt und ihn etwas später auch gelöscht. Das ist zumindest mal ein Anfang. Dennoch: Ausgerechnet die Partei, die Maaßen als Kandidaten hat, stimmt in die völlig an den Haaren herbeigezogenen Antisemitimusvorwürfe gegen Carolin Emcke ein. Der Schaden ist angerichtet, die Kampagne hat gewirkt. Die Entschuldigung und Rücknahme bekommt nur ein Bruchteil der Menschen mit, die sich zunächst ereifert hatten.
Eine Einordnung zu dieser „Kampagne“ findet sich hier: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/shitstorm-nach-bericht-ueber…
Image
Auch auf lokaler Ebene entsetzt mich immer wieder, wie Menschen alles verteufeln und lächerlich machen, was anderen wichtig ist. Da wird Greta Thunberg als „Göre“ beschimpft oder als „Greta Thunfisch“ verballhornt und noch viel schlimmeres. Auf Facebook verroht die Sprache selbst von Menschen, die ich eigentlich ganz anders kennengelernt habe. Eine sachliche Diskussion um Inhalte scheint kaum noch möglich zu sein. Manche haben den Kontakt völlig abgebrochen und auch nicht mehr auf mein Gesprächsangebot reagiert. Dieser Umgang untereinander erschreckt mich.
Ich möchte über das alles gar nicht klagen und jammern. Es ist auch in Ordnung, wenn wir in vielen Sachfragen unterschiedlicher Meinung sind. Aber ich frage mich: Ist das die Art, wie Christinnen und Christen miteinander umgehen sollen? Mit Schmutz aufeinander werfen und die anderen lächerlich machen? Soll das Bannonsche Prinzip „flood the zone with shit“ (flute das Gebiet mit Scheiße, irgendwas wird schon hängenbleiben) auch bei uns Einzug halten? Können wir denn gar nicht mehr aufeinander hören? Oder gibt es noch Chancen auf Dialog und Austausch?
Kommen wir ins Gespräch?
Ich hatte hier im ersten Entwurf noch eine ganze Reihe von politischen Sachfragen stehen, in denen ich die Entscheidungen der Unionsregierungen der letzten 16 Jahre sehr kritisch betrachte. Ich habe sie gestrichen, denn mir geht es hier nicht darum, einzelne Punkte zu diskutieren, so wichtig sie für unsere Zukunft sein mögen. Vielleicht bringe ich sie nochmal in einem extra Post irgendwann. Mir geht es um die christliche Haltung in der Politik und darum, wie es möglich sein kann, diese Haltung zu bewahren. Vielleicht sehe ich das alles ja völlig falsch. Vielleicht können Sie mich überzeugen, dass das alles richtig und zutiefst christlich ist so, wie es gerade läuft. Darum:
Liebe Unionswählerinnen und Unionswähler,
wie gerne würde ich eine Partei unterstützen, die christliche Werte mit sozialem Handeln und mutigem, verantwortungsvollem Planen für die Zukunft unserer Kinder und Enkel unterstützt. Es macht mich traurig, sogar wütend, dass ich das ausgerechnet bei den Parteien, die ein „C“ im Namen tragen, am wenigsten sehe. Gerne hätte ich eine Heimat in einer christlichen, sozialen Partei, aber ich sehe sie hier nicht.
Ich weiß nicht, warum Sie die Union wählen. Ich würde darüber gerne ins Gespräch kommen, fürchte aber, dass es wieder zu einer Grünenbashing-Schlammschlacht wird in den Kommentaren, weil ich mich an anderer Stelle sehr deutlich „grün“ positioniere. Darum geht es mir hier aber nicht. Ich möchte aber gerne verstehen, was Sie antreibt, was Ihnen wichtig ist, warum Sie wählen, was Sie wählen. Ich bin gespannt auf Ihre Antworten.
Bild von Kamyq auf Pixabay