Die Kakerlake
Kafkas Verwandlung andersrum: Jim Sams (bei Kafka war es Gregor Samsa), die Kakerlake, findet sich plötzlich nach dem Aufwachen im Körper des britischen Premierministers wieder. Nach einer kurzen Eingewöhnugnszeit stellt er fest: Auch fast alle seine Kabinettskollegen sind ehemalige Kakerlaken. Sie kennen sich aus in 10 Downing Street, denn schon immer haben sie hier gelebt, wenn auch in anderen Körpern. Sie wissen, was zu tun ist, und sie haben einen Auftrag von ihren Artgenossen.
Und dieser Auftrag ist zwar nicht der Brexit – der wird mit keinem Wort erwähnt – aber eine völlig unsinnige Forderung, die Großbritannien wirtschaftlich völlig vom Rest der Welt abschneiden wird. Ich möchte dem Buch nicht vorgreifen und verraten, worum es geht. Jedenfalls: Diese Forderung wird von Jim und seinen Kolleginnen und Kollegen mit großer Rücksichtslosigkeit durchgezogen. Sie haben ein Ziel. Sie wissen, was sie wollen.
Ohne Boris Johnson oder den Brexit auch nur mit einem Wort zu erwähnen, zeichnet McEwan die politische Entwicklung in Großbritannien nach. Welche Minister gehen müssen, wie die Stimmung immer weiter angeheizt wird. Auch die Ratlosigkeit der Europäischen Union, die fehlenden Handelsabkommen mit bedeutenden Staaten. Ja selbst der amerikanische Präsident, der als einziger begeistert ist von Jims Projekt und es „großartig“ findet. Ob er selbst auch eine verwandelte Kakerlake ist? Der Verdacht liegt nahe, aber es bleibt offen.
Schließlich, zu Weihnachten, ist das Projekt vollendet. Großbritannien setzt den wirtschaftlichen Plan um, ohne zu wissen, welche Konsequenzen das für die britische Wirtschaft haben wird.
Zufrieden verlassen die Kakerlaken die menschlichen Körper, die sie in der letzten Zeit gesteuert haben. Das Ziel ist erreicht. Was die Kakerlaken eigentlich mit der ganzen Aktion bezwecken – es liegt in der Luft und wird doch erst ganz am Ende klar.
Eine, finde ich, gelungene und amüsante Abrechnung mit der Brexit-Politik von Boris Johnson. Politische Satire? Kann man fast nicht sagen, denn eher ist es eine Nacherzählung dessen, was bereits passierte, wobei nur einige wenige Parameter verändert wurden.
Mir hat es Spaß gemacht, diesen relativ kurzen Roman zu lesen. Es ist kein literarisches Meisterwerk mit vielen Handlungsbenen. Es ist ja eigentlich irgendwie nicht mal Fiktion. Er ist geradeheraus, klar in seiner Positionierung und vielleicht das, was die Brexit-Gegner jetzt brauchen, um irgendwie humoristisch mit dem umzugehen, was da auf sie zukommt: Kakerlaken.
Buchinformationen
Ian McEwan: Die Kakerlake. Übersetzt von Bernhard Robben. Gebundene Ausgabe, 112 Seiten, Diogenes-Verlag November 2019, ISBN: 978-3-2570-7132-0, 19,- € (E-Book 14,99 €)