Eines Menschen Flügel
Owen ist der beste Flieger, den die Welt je gesehen hat. Und das will etwas heißen, denn seit ziemlich genau tausend Jahren besitzen die Menschen Flügel. Die Ahnen, die einst, so heißt es in den alten Geschichten, mit einem Raumschiff auf diese Welt kamen, haben ihnen die Flügel der heimischen Pfeilfalken gegeben. Denn auf dem Boden dieser Welt herrscht der Margor, eine unsichtbare, unbegreifliche Lebensform, die schon beim kürzesten Kontakt die Menschen innerhalb von wenigen Sekunden töten kann.
So leben die Menschen naturverbunden und ohne Technik weitgehend friedlich in verschiedenen Stämmen, in den Ästen und Zweigen riesiger Bäume. Sie studieren die Bücher der Ahnen, die ihnen erklärten, wie das Leben auf dieser Welt organisiert werden kann. Und sie leben gut und im großen und ganzen zufrieden. Es ist eine wunderschöne Welt, auch wenn der Himmel stets von einer undurchdringlichen Schicht bedeckt ist, so dass sie niemals die Sterne, die Sonne oder den Mond sehen können. Nur Owen gelingt es nach jahrelangem intensivem Training und mithilfe einer selbst gebauten Rakete, den Himmel zu durchstoßen und die Sterne zu erblicken. Tief beeindruckt und halbtot von dem Abenteuer kehrt er zurück und ist überzeugt: Es ist ihre Bestimmung, die Bestimmung der Menschen dieser Welt, eines Tages zu den Sternen zurückzukehren, von denen sie kamen.
Er ahnt nicht, was er damit in Gang setzt und was sein Sohn Oris nach seinem tragischen Tod weiterführen wird. Eine geheime Bruderschaft setzt alles daran, die Entwicklung aufzuhalten. Sie hat gute (aber geheime) Gründe dafür, doch in der Wahl ihrer Mittel ist sie alles andere als zimperlich. Oris bereist mit seinen Freunden die gesamte bekannte Welt, übersteht gefährliche Abenteuer, entkommt aus der Festung der Bruderschaft und entdeckt nach und nach die wahre Geschichte ihrer Welt. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten ist: Was die Ahnen damals vor tausend Jahren für immer zu verhindern versuchten, nimmt seinen Lauf und wird die Welt für immer verändern.
Andreas Eschbach ist ein wunderschöner, berührender Roman über eine liebenswerte Welt gelungen. Ein umfassendes Epos über das Reich der geflügelten Menschen. Eine detaillierte Beschreibung der vielen kleinen und großen Eigenheiten der verschiedenen Regionen der Welt und der Menschen, die dort leben. Nordländer, Südländer, Eisenländer – so verschieden sie sind, sie alle eint ein tiefer Respekt vor der Natur, in und von der sie leben. Eschbach erzählt von den Märkten, die in den Bäumen zwischen den Nestbäumen abgehalten werden. Vom größten Theater der Welt. Von Buchmachern und vom Ackerbau an Steilhängen, die kein Margor erreicht. Von Liebschaften, Eifersucht und Dramen. Von Neid und Missgunst. Von Verrat und der Sorge, dass alles aus dem Ruder geraten könnte. Viele, viele Liebesgeschichten ziehen sich durch das Buch, nicht alle Sehnsüchte werden erfüllt.
Grundverschiedene Menschen gibt es kennenzulernen in diesem Buch. Jeweils für einen Abschnitt nimmt Eschbach die Perspektive eines dieser Menschen ein. Manchmal erleben wir dadurch ein Geschehnis, von dem viele Seiten früher schon einmal zu lesen war, aus den Augen einer ganz anderen Person, aber immer führt der Handlungsstrang weiter.
Für mich, der ich mir insbesondere so fremde Namen wie Oris, Ifnigris und andere einfach nicht merken kann, war diese Technik ausgesprochen hilfreich. Ich habe geradezu Freunde gefunden in diesem Buch. Ich habe mit Oris und seinen Freunden gebangt und später gestaunt über das, was sich an Geheimnissen auftat. Auch über den unerwarteten Schutz, den die Ahnen ihren „Kindern“ hinterlassen haben. Und ich habe manchen Heldentod betrauert.
Über das Ende möchte ich nichts schreiben, um nichts vorwegzunehmen. Es ist traurig und doch irgendwie schön.
Das Buch habe ich nun schon zum zweiten Mal gelesen, denn es ist es wirklich wert, nochmal gelesen zu werden. Lest es!
Buchinformationen
Eschbach, Andreas: Eines Menschen Flügel, Roman, Lübbe; 2. Aufl. 2021, Taschenbuch, 1264 Seiten, ISBN 978-3-4042-0976-7