Theas Stein
10 Kapitel über Familie Jacoby
Eine Familiengeschichte aus der Uckermark
Ulrich Kasparick ist Pfarrer in Hetzdorf. Schon immer interessierte er sich für das, was im „Dritten Reich“ vor sich gegangen ist; bereits seine Staatsexamensarbeit schrieb er über die Einführung des Arierparagraphen. Die Erinnerung an diese Zeit und an die Menschen, die damals gestorben sind, wachzuhalten, ist ihm ein großes Anliegen.
So forschte er lange und sehr intensiv über das Leben der jüdischen Familie Jacoby, die ursprünglich in Hetzdorf einen Laden hatten und später deportiert wurden und von den Nationalsozialisten getötet wurden. Alle: Die Eltern, die Kinder, das gerade geborene Enkelkind. Er interviewte die letzten Zeitzeugen oder deren Nachkommen. Er studierte alte private Aufzeichnungen, Zeitungen, Akten aus der NS-Zeit. Versuchte, sich das Leben damals vorzustellen.
Herausgekommen ist ein Buch, für das mir erst einmal die richtigen Worte fehlen, trotzdem will ich versuchen, es zu beschreiben. Gerade durch die viele Rückgriffe auf Erinnerungen der Menschen, die dabei waren, wird die Zeit von damals lebendig. Es wird spürbar, wie die Atmosphäre nach und nach immer rauer wurde für den einst hoch angesehenen Paul Jacoby, Träger des Eisernen Kreuzes und Schützenkönig. Es ist bestürzend mitzuerleben, wie schnell das alles ging, wie alle versuchten, sich irgendwie zu arrangieren, die einen mehr, die anderen weniger. Ulrich Kasparick beschreibt in klarer, erzählender Sprache, was die Menschen wohl beschäftigte, wie sie dachten, wie sie handelten. Die „große Politik“ in Berlin ist einerseits weit weg für sie und spielt doch immer stärker in das kleine Hetzdorf hinein, auch im Ort wird es immer schwieriger für Familie Jacoby, bis zu dem Tag, an dem Paul Jacoby gezwungen wird, seinen Laden zu „verkaufen“, ohne jemals etwas von dem Geld zu sehen. So gut es geht, verfolgt Kasparick die Geschichte der Familie weiter, als sie nach Berlin zog und schließlich deportiert und ermordet wurde.
Immer wieder zeigt das Buch auch die „großen Pläne“ der Nationalsozialisten auf, die sich an einzelnen Gegebenheiten im Ort festmachten. Immer deutlich wird, wie zielstrebig Hitler von Anfang an auf den Krieg und die Vernichtung der Juden zusteuerte. Es ist beklemmend, diese Zeit am Beispiel einer einzigen Familie mitzuerleben.
Doch es bleibt nicht beim historischen Rückblick. Was dieses Buch zu etwas wirklich Besonderem macht – neben der packend und persönlich erzählten Geschichte der Familie Jacoby, die alleine schon lesenswert ist – ist die Einbettung des Ganzen in ein mehrtägiges Gespräch mit „Ben“, der einige Tage beim Autor zu Besuch ist und sich mit diesem über die einzelnen Kapitel austauscht. Hier kommen die wirklich relevanten Fragen aus unserer Sicht zur Sprache: Wie konnte es tatsächlich so weit kommen? Wie konnten die Menschen so viel sehen und doch so tun, als wüssten sie von nichts? Wie sollen wir umgehen mit den eigenen Eltern, Großeltern, die verstrickt waren in dieses himmelschreiende Unrecht? Wie konnte es zu dem „Großen Schweigen“ nach dem Krieg kommen, als plötzlich keiner mehr irgend etwas gewusst haben wollte?
Und: Wie können Menschen überhaupt so grausam werden, so unmenschlich, so völlig jenseits von allem, was wir unter Moral verstehen?
Ulrich Kasparick ist ein außergewöhnliches Buch gelungen, das mehr tut, als „nur“ die Erinnerung wachzuhalten. Es macht die Erinnerung lebendig. Es ehrt die Verstorbenen. Es prangert auch die Verlogenheit der vielen an, die nichts gewusst haben wollten, hinterher. Es fragt nach uns selbst, unserer Menschlichkeit, nach den Umständen, unter denen wir vielleicht genau so werden könnten. Vor allem aber: Es hält die Erinnerung wach.
Ein unbedingt lesenswertes Buch. Es sollte fester Bestandteil im Geschichtsunterricht an unseren Schulen werden, denn ihm gelingt es, das, was damals war, wach und lebendig zu halten.
Buchinformationen
Ulrich Kasparick: Theas Stein: 10 Kapitel über Familie Jacoby Eine Familiengeschichte aus der Uckermark, Broschiert, 106 Seiten, Schibri-Verlag ISBN 978-3-8686-3154-8, 9,90 €
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