Die Ungetrösteten

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Nach dem „begrabenen Riesen“, der mich sehr fasziniert hatte, wollte ich unbedingt nochmal ein Buch von Kazuo Ishiguro lesen. Die Wahl fiel relativ zufällig auf dieses Buch: Die Ungetrösteten. 

Und das Buch hatte mich schon von den ersten Seiten gepackt. Allerdings auf eine sehr, wie soll ich sagen: Seltsame Art. Denn es ist einfach rätselhaft, völlig unverständlich, was hier geschieht. 

Mr. Ryder kommt in einem Hotel an und wird ausnehmend zuvorkommend behandelt. Er scheint eine herausragende Persönlichkeit zu sein, doch es bleibt lange unklar, was er eigentlich ist. Ein voller Terminplan wird erwähnt und natürlich „Donnerstag abend“. Was wird da sein? Wer ist Mr. Ryder eigentlich? 

Kazuo Ishiguro spielt gekonnt mit dem Unwissen der Leser. In winzigen Häppchen gibt er gewissermaßen über das gesamte Buch immer mehr Informationen frei, gewissermaßen immer gerade genug, um als Leser überleben zu können, doch nie genug, um zufrieden sein zu können. Doch auch Ryder selbst scheint nicht viel Ahnung zu haben, wer er ist, was er hier soll, vor allem auch: Wie sein ach so voller Terminplan eigentlich aussieht. 

Dieser Terminplan ist sowieso von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn Ryder lässt sich von allen, die ihm begegnen, überreden, ihnen einen Gefallen zu tun. So stolpert er von einer seltsamen Situation in die nächste. Das entbehrt manchmal nicht einer gewissen Komik, etwa in der einen Szene, als er, nur mit einem Bademantel bekleidet auf einem Stuhl stehend, vor einer abendlichen vornehmen Gesellschaft seine einzige Rede während seines Aufenthalts in der Stadt hält. Diese Rede wird von allen als bedeutend und wegweisend für die Stadt angesehen. Und sie besteht – aus dem Geschehen heraus völlig nachvollziehbar – aus folgenden Worten „Herunterfallende Vorhangschienen! Vergiftete Nagetiere! Partituren voller Druckfehler!“

Ryder begegnet unter anderem dem Hoteldiener Gustav, der seine Arbeit sehr ernst nimmt und der ihn – auch wieder ein Gefallen, um den er bittet – zu seiner Tochter Sophie schickt, um mit dieser zu reden. Ryder geht auf Sophie zu, ohne sie und ihren Sohn Boris zu kennen. Doch nach und nach stellt sich immer mehr die Ahnung ein, dass die beiden eigentlich ein Paar sind, das aber wegen der vielen Tourneen Ryders getrennt lebt, und dass der Sohn möglicherweise ihr gemeinsames Kind ist. Möglicherweise sind sie das Paar, von dem ehemalige Nachbarn berichten, sie hätten sich ständig gestritten; sicher ist es nicht, aufgelöst wird es auch nicht. 

Das Verhältnis von Ryder und Boris ist angespannt und gleichzeitig ein Paradebeispiel für alle Beziehungen zwischen den Menschen in diesem Buch: Immer wieder versucht Boris, die Anerkennung Ryders zu bekommen, durch Dinge, die er tut, dadurch, dass er betont, wie sehr er sich über ein Geschenk freut, durch viele, viele Kleinigkeiten. Doch Ryder tut all das ab, es sei nichts. So bleibt Boris einer von denen, die schon im Titel angedeutet sind: Er bleibt ungetröstet.

Jeder in diesem Buch auf seine Art ist auf der Suche nach Trost. Nach Anerkennung. Nach zwischenmenschlicher Wärme. Versuchen alles mögliche, um es zu erreichen. Der Sohn des Hoteliers sucht Perfektion im Klavierspiel, doch seine Eltern hören nicht mal zu. Gustav, der Hoteldiener, stellt keine Koffer auf den Boden, sondern trägt sie in der Hand, selbst im Aufzug, egal wo. Der Hotelbesitzer versucht, seiner Frau jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Und alle, alle scheitern sie daran. Bleiben ungetröstet. Und selbst Ryder, der von einem Gefallen zum nächsten rennt und allen Gutes tun will, kann daran nichts ändern, versagt, verärgert darüber eben andere.
Die Erzählung ist seltsam, ja anstrengend. Seitenlange Monologe voller Assoziationen und Wiederholungen und doch genau so, wie Menschen eben manchmal reden. Ort und Zeit verschwimmen. Zwei Tage sind es nur bis zu jenem denkwürdigen und für die Stadt offenbar schicksalhaften „Donnerstag abend“, der, wie sich nach und nach herausstellt, sowohl ein Konzert als auch eine Rede Ryders beinhalten soll. Die Zeit scheint sich ins Unendliche zu dehnen. Und der Raum dehnt sich oder zieht sich zusammen, wie immer es gerade passt: Nach einer offenbar mehrstündigen Autofahrt scheint keinerlei Zeit vergangen zu sein – und Ryder kommt in einem Raum an, der am anderen Ende des Hotels liegt, von dem aus er losgefahren ist. Eine heruntergekommene Wirtschaft auf dem freien Feld entpuppt sich als die Rückseite eines Cafés mitten in der Stadt, in dem Ryder Boris vor Stunden zurückgelassen hat, der dort aber immer noch beim Frühstücken ist. Das Auto, dem sie in einer anderen Szene hinterherfahren, ist nach einer Pause in einer Raststätte immer noch am Horizont zu sehen. 

Ist das alles Traum? Ist das Realität? Alles verschwimmt, wird unsicher in diesem Buch. Real ist wohl, dass wir viel zu oft so miteinander umgehen. Dass wir uns gegenseitig die Anerkennung verweigern. Dass wir ungetröstet bleiben, immer und immer wieder. Gustav und seine Tochter Sophie reden seit Jahrzehnten nicht miteinander, eigentlich ohne Grund, und können diese Kluft nicht einmal im Angesicht des Todes überwinden. 

Es war zeitweise schwer für mich, weiterzulesen. Es ist anstrengend. Es ist deprimierend. Es ist traurig und doch so menschlich. Und doch wollte ich immer weiterlesen von diesen Menschen, von diesen Ungetrösteten. 

Immer dachte ich beim Lesen: Es muss doch eine Auflösung geben. Etwas, das diese ganzen seltsamen Erzählstränge zusammenführt, den Knoten auflöst, vielleicht sogar ein happy end. Ja, man erfährt beim Lesen immer mehr über die Menschen, in ganz kleinen Häppchen und vieles nur als Ahnung eines Geschehnisses. Mehr aber auch nicht. Vielleicht ist es für Ryder aber tatsächlich ein happy end, dieser Schluss. Soll das der ganze Sinn gewesen sein? Ich bleibe ungetröstet.

 

Ich kann verstehen, dass dieses Buch nicht jedem gefällt. Es will ja auch gar nicht gefallen. Es verstört, es bringt auf den Punkt und lässt gleichzeitig alle Sicherheit verschwimmen. Für mich persönlich war es sehr lesenswert. Und ich gebe ihm die vollen fünf Kuschelpunkte.

Kuschelpunkte

Buchinformationen

Kazuo Ishiguro: Die Untetrösteten. Gebundene Ausgabe, 735 Seiten, Rowohlt Verlag 1996, ISBN 978-3-4980-3212-8, 11,99 €

Taschenbuch offenbar vergriffen.

E-Book: 9,99 €