Der begrabene Riese
Ich muss gestehen: Den „Bestseller-Autor“ Kazuo Ishiguro kannte ich bisher noch nicht. Dass ich nun sein neuestes Werk „Der begrabene Riese“ gelesen habe, ist ein riesengroßer Zufall, da ich selten die Zeit finde, in einer Zeitung bis zum Feuilleton-Teil vorzudringen, in dem ich eine Vorbesprechung dieses Romans vor dem Erscheinen der deutschen Übersetzung gefunden habe.
„Der begrabene Riese“ spielt in Britannien um das Jahr 500, kurz nach König Artus. Das Land ist verarmt und durch viele Kämpfe zwischen Sachsen und Britanniern heruntergekommen. Jetzt aber leben beide Bevölkerungsgruppen friedlich nebeneinander.
Doch ein seltsamer Nebel hat sich über das Land gelegt, der die Menschen dazu bringt, so gut wie alles zu vergessen, was sie erlebt haben, die guten Dinge genauso wie die schlechten.
Ein altes Paar, Axl und Beatrice, machen sich schließlich auf den Weg, ihren Sohn zu suchen, an den sie nur eine verschwommene Erinnerung haben, von dem sie unterwegs aber allen erzählen, er warte im nächsten Dorf schon sehnsüchtig auf sie.
Die beiden treffen auf Ritter Gawain, der einst für Artus kämpfte, und auf den sächsischen Krieger Wistan. Sie begegnen Unholden, Menschenfressern und zuletzt einem Drachen. Sie fangen an, ganz langsam und blitzlichtartig, sich zu erinnern. Und beginnen, sich zu fragen, ob es wirklich so gut wäre, die Erinnerung wiederzuerlangen. Was, wenn eine lang vergessene Erinnerung sie dazu brächte, dass sie sich nicht mehr lieben könnten? Was, wenn da ein großer Streit aus der Vergangenheit wieder hochkommt?
Das ist überhaupt die Grundfrage, die sich durch den ganzen Roman zieht: Wie viel Erinnerung ist gut, was ist vielleicht besser vergessen? Nicht nur auf der zwischenmenschlichen Ebene, sondern genauso zwischen den Volksgruppen. Sorgt das Vergessen für Frieden zwischen Sachsen und Britanniern? Wird das Verschwinden des Nebels die alten Kämpfe wieder aufleben lassen, nur noch grausamer und intensiver als bisher?
Viele seltsame Begegnungen haben Axl und Beatrice, viele Gefahren müssen sie mit ihren mehr oder weniger unfreiwilligen Gefährten überstehen. Und am Ende kommt die Frage „Vergessen oder Erinnern?“ zu einer überraschenden Lösung. Ist sie gut? Ist sie schlecht? Es bleibt offen.
Es ist ein ungewöhnliches Buch, finde ich. Die sehr realistische Beschreibung des damaligen Lebens und der Landschaften vermischt sich mit Fantasy-Elementen, die sehr im Ungefähren bleiben und Platz für Fantasie lassen.
Ich hatte immer das Gefühl, mitten in der Geschichte zu sein, aber nur einen winzig kleinen Teil einer viel größeren Geschichte zu erfahren. Viele, viele Dinge bleiben ungeklärt. Was war das mit der Kerze? Welche Rolle hat Axl früher gespielt, an die er sich nicht mehr wirklich erinnern kann? Wer ist der Fährmann? Es bleibt offen, auch am Ende, und es ist auch gut so.
Ein ausgesprochen lesenswerter Roman über das Erinnern und Vergessen, Schuld und Vergebung, über Liebe, Vertrauen, Freundschaft und Lebensziele. Ich habe ihn mit großem Genuss gelesen. Es war bestimmt nicht das letzte Buch, das ich von Kazuo Ishiguro gelesen habe. Fünf von fünf Kuschelpunkten.
Buchinformationen
Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese. Originaltitel: The buried giant. Deutsch von Barbara Schaden. Gebundene Ausgabe: 416 Seiten, Blessing Verlag, ISBN 978-3-8966-7542-2, 22,99 €
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