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Samstag, 10.12.2005, 19 Uhr
Himmelsbürger
„Der Mann neben mir“
Auf dem Balkon stehe ich. Zimmer zweihundertvier. Blick auf die Stadtmauern von Jerusalem. Rechts das Jaffa-Tor, links die armenische Kirche. Im Hintergrund die silberne Kuppel einer Moschee, in der sich erste Blitze spiegeln.
Der Mann neben mir lebt seit 1946 in Jerusalem. Er sagt: „Um diese Jahreszeit gibt es hier selten Unwetter. Irgendein Dybbuk macht sich am Himmel wichtig.“
Jetzt fliegt ein Feuerstab waagerecht durch die Luft. Er misst mindestens zwei Kilometer. Es donnert, wie ich es noch nie gehört habe. Hunderte Alarmanlagen schlagen an, die Welt scheint aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Der Mann sagt: „Im Konzentrationslager war alles mein Trost, worüber die Nazis keine Macht hatten. Die Wolken, das Wetter, die Jahreszeiten, der Wechsel von Tag und Nacht. Die Wälder konnten sie abholzen, die Vögel im Flug töten, die Bäche umleiten oder ihr Wasser vergiften. Aber der Mond, die Sonne, die Milchstraße, die Trommelwirbel der Gewitter entzogen sich ihrem Zugriff. Dorthin, in die verbrecherlose Welt, bin ich in Gedanken übersiedelt. Tausend Mal, jede wache Stunde. Das hat mich wahrscheinlich vor dem Untergehen bewahrt.
Er sagt das mit rätselhafter Heiterkeit in der Stimme. Mittlerweile hat der Regen unsere Kleidung durchnässt. „Damals habe ich begriffen, dass es den Himmel wirklich gibt. Der ganz normale Himmel, den wir sehen, das ist auch der andere Himmel. Für mich, der ich um Rettung flehte, war er das grenzenlose Paradies, die Zuflucht der Mühseligen und Beladenen.“
Der Mann greift mit der linken Hand in die Innentasche seines Sakkos. Einen Ausweis zeigt er mir, den er selbst hergestellt hat. „Himmelsbürger“, lese ich darauf, und weiter: „Muss nichts. Darf alles. Widerruf unmöglich.“
Der Mann sagt: „Die der Hölle entronnen sind, gehören dem Himmel. Israel oder Amerika, Deutschland oder Syrien, das ist ganz und gar Erde. Ich tu so, als wäre ich geerdet. In Wirklichkeit bin ich gehimmelt. Das werden Sie vielleicht nicht verstehen, aber ich bin zu alt und hab zu viel erlebt, um zu lügen.
Text: André Heller, gekürzt von Heiko Kuschel
Quelle unbekannt.
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